Vor kaum einem Jahrhundert war Kypseli lediglich ein malerischer Ort auf dem Lande mit Weingärten und Weiden, nur zwei Kilometer von der griechischen Hauptstadt entfernt. Damals gab es einige Villen und Bauernhäuser, und das Gebiet wurde von zwei Bachbetten begrenzt. Als in den Dreißigerjahren die Verstädterung einsetzte, wurden die Bachbetten überbaut und die ersten Apartmenthäuser im Art-Déco- und Bauhausstil der Zeit errichtet. In den Fünfzigerjahren war Kypseli ein exklusives Viertel für die gehobene Gesellschaft, das Künstler und Intellektuelle anzog. Als sich das Stadtzentrum weiter verdichtete und über die bisherigen Grenzen hinauswuchs, trat die Elite den Rückzug in die Vororte an und Kypseli teilte das Schicksal anderer naher Quartiere und stieg langsam ab. Die sinkenden Mieten zogen Einwanderer vom Balkan, aus Afrika und Asien an, die sich seit den Neunzigerjahren in Kypseli niedergelassen haben.
Foto: Orestis Seferoglou
Heute ist Kypseli einer der am stärksten multikulturell geprägten Stadtteile Athens mit ungefähr 50.000 Einwohnern. Er ist so dicht bebaut, dass eine urbane Legende behauptete, es handle sich um den am dichtesten besiedelten Ort in Europa (tatsächlich hat Athen die dritthöchste Bevölkerungsdichte unter den europäischen Städten). Der nahe Park Pedion tou Areos ist eine mehr als nötige grüne Lunge für den Bezirk, aber die wohlhabende Vergangenheit von Kypseli sieht man nirgends deutlicher als in den stattlichen Apartmenthäusern und den alten Cafés an der Fokionos-Negri-Straße. Jüngere Scharen zieht es zum Agios-Georgios-Platz als ihrem neuen Lieblingstreff, wo sogar Bewohner anderer Stadtteile Stammgäste sind.
Kypseli ist nicht nur Stadtgeschichte und ethnischer Flickenteppich. Es ist auch die Bauernmärkte und das Gefühl einer kleinen, inklusiven Nachbarschaft. Es ist die rund um die Uhr geöffneten kleinen Lebensmittelläden und die Familien im Sonntagsstaat, die aus der Kirche kommen. Es ist das Surren der Obusse, die die Kypselis-Straße hinauf- und hinabfahren und die Trauben von Menschen, die vor den vielen Theatern in der Kefallinias-Straße ein Schwätzchen halten. Es ist die Namen vergessener Poeten und Schauspieler auf Tafeln an den Fassaden alter Apartmenthäuser. Es ist die Reihe von Stuckbauten und vormodernen Stadthäusern in der Drosopoulou-Straße. Es ist der Wechsel von Trubel zu Stille, wenn man von einer Straße in die nächste einbiegt, und das stetige Gefühl, dass nicht weit von den größten Athener Monumenten und dem Gewicht der altgriechischen Geschichte die Vergangenheit der Stadt ihrer Gegenwart auf andere Weise begegnet: still, undramatisch, unangekündigt und sehr, sehr menschlich.
Foto: Orestis Seferoglou
Foto: Orestis Seferoglou
Die Patission Avenue (28is Oktovriou-Strasse)
Diese Hauptstraße verbindet den früheren Vorort Patissia mit dem Stadtzentrum. In den Sechzigerjahren war sie eine der besten Einkaufsstraßen Athens. Die Patission Avenue ist perfekt auf den Parthenon ausgerichtet, weil die Stadtplaner im 19. Jahrhundert sie direkt zu einem Schloss führen wollten, das niemals gebaut wurde. Um nach Kypseli zu kommen, werden Sie vermutlich den Zug zum Bahnhof Victoria nehmen, einem denkmalgeschützten Art-Déco-Bau, der nach der britischen Monarchin benannt ist, und ein paar Minuten die Patission hochlaufen – wobei Sie sich vielleicht einen Kaffee aus dem The Rockers besorgen wollen. Ein paar Blocks weiter liegt das imposante neoklassizistische Gebäude der Wirtschaftsuniversität Athen, und direkt um die Ecke finden Sie das unaufdringliche Colourful Planet, den einzigen LGBTQ+-Buchlanden der Stadt. Niemand sollte Kypseli ohne einen Schlummertrunk im Au Revior verlassen, einer Bar, die 1958 aufgemacht hat und als „älteste Bar Athens“ gilt. Wählen Sie einen Whisky oder einen anderen puren Schnaps und mischen Sie sich bis spät in die Nacht unter die Menge der einheimischen Gäste.
Die Fokionos-Negri-Strasse
Das Herz von Kypseli schlägt rund um die Fokionos Negri, einen für den Fahrzeugverkehr gesperrten Boulevard, der über einem Bachbett gebaut wurde (der Bach fließt noch tief unter dem Pflaster). Die Straße säumen zahllose Cafés, Restaurants und Bars, wo sich Einwohner jeden Alters unter den Bäumen zu einem Schwätzchen und zur Kontaktpflege treffen. Die offenen Plätze und Rasenflächen entlang der 600-Meter-Promenade sind außerdem bei Hundebesitzern beliebt (lustiges Detail: suchen Sie das Hundedenkmal aus den Vierzigerjahren). In ihren besten Tagen war die Fokionos Negri eine der exklusivsten Adressen in Athen, wovon heute noch beeindruckende Apartmenthäuser zeugen. Tatsächlich ist Kypseli reich an interessanter Architektur verschiedener Perioden und Stilrichtungen.
Foto: Orestis Seferoglou
Foto: Orestis Seferoglou
Die Städtische Markthalle von Kypseli ist ein weiteres historisches Wahrzeichen des Ortes. Sie wurde 1935 als Lebensmittelmarkt gebaut und fungiert heute als örtlicher Knotenpunkt für kleine Unternehmen und Veranstaltungen. Die Stadt Athen hat sie kürzlich renoviert und versucht ihr durch eine offene Ausschreibung, die sich an soziale Unternehmen und Start-ups wendet, neues Leben einzuhauchen. Am Ende der Fokionos Negri liegt der Kypseli-Platz, das Zentrum des Viertels, wo Sie den Bus oder Obus zum Bahnhof Victoria und nach Syntagma nehmen können.
In der Fokionos Negri lebt auch die künstlerische Vergangenheit der Gegend fort. Die Blank Wall Gallery konzentriert sich vor allem auf Fotografie. In der Felios Collection werden regelmäßig traditionelle Malereiausstellungen und andere kunstbezogene Events organisiert. Wer auf zeitgenössische Kunst steht, sollte die von KünstlerInnen betriebenen Galerien Bhive und Snehta in der Nähe besuchen, allerdings sind beide nur nach Vereinbarung und während der Ausstellungen geöffnet.
Eine typisch Athener Art, einen Sommerabend zu verbringen, ist eine Filmvorführung im kürzlich wiedereröffneten Freiluftkino Stella, das von einem Filmverleih mit Sitz in Kypseli betrieben wird und vor allem europäische Streifen und Kunstfilme zeigt.
Wenn Sie Kaffee trinken wollen, sollten Sie sich für einen doppelten Cappuccino und zum entspannten Leutegucken ins Tsibi Tsibi oder Phoibos setzen. Fleischliebhaber werden die authentischen griechischen Gerichte im Rigani schätzen, das qualitativen Gyros und jede Art gegrilltes Fleisch nach Imbissart serviert. Falls Sie lieber Fisch und Meeresfrüchte wollen, begeben Sie sich zu Vlasis, einem traditionellen Fischhandel mit angeschlossener Taverne.
Foto: Orestis Seferoglou
Platia Protomagias
Ein kurzer Gang entlang der Evelpidon-Straße wird Sie zum Platz des 1. Mai (Platia Protomagias) führen, der von der imposanten Fassade der früheren Kadettenschule aus dem 19. Jahrhundert dominiert wird und wo sich die Anwohner zu Backgammon und Kricket treffen. Auf dem Platz finden Sie auch das Alsos (alsosloungecafe.gr), ein nettes Café im Park Pedion tou Areos mit unerwartetem Lykabettos-Blick. Für einen schnellen Snack unterwegs ist die Bäckerei Stergios (Kerkyras 15, 113 62, Tel.: +30 210 881 7939) Ihre Anlaufstelle: Probieren Sie die Hähnchenpastete oder die Brioche-Sandwichs. Und wenn Sie das einzig wahre Athener Mittagessen suchen, probieren Sie das Ippokambos direkt gegenüber den Athener Gerichten aus. Zur Stoßzeit müssen Sie mit einer Schar hungriger Anwälte rechnen, kommen Sie also möglichst zeitig.
Foto: Orestis Seferoglou
Foto: Orestis Seferoglou
Der Agios-Georgios-Platz
Nicht weit von der Fokionos-Negri-Straße finden Sie den sehr viel kleineren Agios-Georgios-Platz, den kürzlich wiederentdeckten Treffpunkt der Gegend. Tagsüber ist der Platz ziemlich still, nur ein paar Passanten mit ihren Einkäufen sind zu sehen, aber abends erwacht er zum Leben, wenn sich die Handvoll Bars und Restaurants mit Gästen füllt. Drinks und großartige Pizza gibt es im It’s a Village – vorausgesetzt Sie haben das Glück, einen Tisch zu erwischen, denn es ist das angesagteste Haus am Platz. Die nahe Allotino Jazz Bar ist nicht weniger lebendig und bietet ebenfalls anständige Cocktails. Zum Abendessen sollten Sie sich einen Tisch im Nostimies tis Mairis sichern und sich allerlei Hausmannskost und großartige Suppen schmecken lassen. Wenn Sie spätabends hingehen, begegnen Sie vielleicht den örtlichen Schauspielern und Theaterregisseuren, die dort gerne nach ihren Vorstellungen abhängen. Schräg über den Platz können Sie zwischen Zucchinibratlingen und Steak im Kyveli oder Gyros mit reichlich Salat im Dionysos wählen.